3. Juni 2022
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Mit Blick auf biblische Erzählungen rücken kreative, motivierende Methoden aus dem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht in den Fokus des Religionsunterrichts. Sie sind gerade für die oft mythisch ausgeschmückte Prosa der Wundergeschichten bedeutsam. Seine Verfahren sind jedoch an hermeneutische Auflagen geknüpft.

Der Erfolg handlungs- und produktionsorientierter Arrangements basiert auf der Beachtung von wichtigen Grundregeln bereits in der Unterrichtsvorbereitung, die berücksichtigen, dass Lernende zu aktiven Mitgestaltern des Textsinns werden:

  • Nehmt euch Zeit für eine gründliche Sachanalyse des Textes. Weicht fremden, anstößigen oder neuen exegetischen/religionswissenschaftlichen Erkenntnissen nicht aus.
  • Bedenkt, welche Textpointen gemäß der Sachanalyse sinnvoll zu korrelieren sind. Wählt Methoden, die den Korrelaten sinnvoll zuarbeiten.
  • Macht euch bewusst, dass ein hastiges Drängen auf interpretatorische „Erkenntnisse“ dem Ansatz des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts widerspricht. Plant ausreichend Unterrichtszeit für die Methoden ein.
  • Bedenkt, dass brillante Erzähler den Raum einer Erzählung mit der psychischen Verfassung ihrer Figuren korrelieren lassen.

Beachtet ihr diese Grundsätze während der Vorbereitung auf eine Stunde zur Exposition aus der Erzählung über den Besessenen von Gerasa (Mk 5,1-20), lassen sich folgende Akzente setzen (ab Klasse 9):

Textpointen und Korrelate erfassen

Ich habe mich exegetisch über die Gattung der Dämonenaustreibungen informiert. Sie gehen im Kern auf den historischen Jesus zurück und spiegeln poetisch ausgeschmückte Heilungsprozesse von psychosomatischen Erkrankungen. Auslöser der körperlichen Symptome sind psychische Deformierungen, die in der Antike durch das mythische Motiv der Dämonen artikuliert und exegetisch unter dem Schlüsselbegriff der Selbstentfremdung gebündelt werden. Damals wie heute berührt die Erzählung die Sehnsucht nach ganzheitlicher Heilung und protestiert gegen fragmentiertes Leben. Ihr betretet also mit den Lernenden ein Themenfeld der integralen Medizin. Die Exposition (Mk 5,1-5) birgt folgende Korrelate (kursiv):

  • Sie knüpft an die mythischen Bilder der Sturmstillung an: Wird das Vertrauen auf einen tragenden Grund des Lebens auch dann substanziell, handlungsauslösend sein, wenn das Mobbing wie in Gerasa die Seele so zerkratzt, dass man sich den Toten näher fühlt als den Lebenden?
  • Der Friedhof symbolisiert Entfremdung, Verlorenheit, Kommunikationsabbruch. Wer hier haust, ist jüdischer Vorstellung nach unrein und von religiösen Riten im Namen Gottes ausgeschlossen.
  • Die eruptiven Autoaggressionen des Gemobbten zeugen von Selbsthass infolge des Dirigismus durch Dritte; das lautstarke Schreien offenbart den verzweifelten Protest gegen die Entmündigung; die Theatralik überdeckt die paranoide Angst vor menschlicher Nähe, daher macht er wie entfesselt die Nacht zum Tag und kommt innerlich und äußerlich nicht zur Ruhe.
  • Das widersprüchliche Verhalten des Mannes (er läuft unvermittelt auf Jesus zu, um ihn zu bitten, sich nicht mit ihm zu befassen) dokumentiert die typische Angst vor den psychosozialen Konsequenzen einer heilsamen Therapie, letztlich also davor, gottgewollt unabhängig vom Urteil Dritter leben zu dürfen.

Die vorgeschriebenen zerrissenen Kleider dienen der sichtbaren moralischen Stigmatisierung und spiegeln die innere Zerrissenheit eines Lebens, das diesen Namen kaum mehr verdient. Die Mobbingtäter, Hüter der offiziellen Moral, mögen sagen: „Den kannst du begraben.“

Methoden stringent ableiten

Ich entscheide mich angesichts der Sachanalyse für die Methode, Requisiten des Raumes zum Sprechen zu bringen:

  1. Im Einstieg äußert sich die Klasse assoziativ zu bekannten Redewendungen wie „den/die kannst du begraben“, „du bringst mich noch ins Grab“, „sich sein eigenes Grab schaufeln“, „mir sind die Hände gebunden“, „sich die Seele aus dem Leib schreien“, „verrücktspielen“, „das ist ein Schlag ins Gesicht“, „mit jemandem oder etwas geschlagen sein“.
  2. Die Lernenden lesen Mk 5,1-5 gemeinsam und sie spekulieren darüber, inwiefern die Redewendungen zur Erhellung der Verfassung des Mannes etwas beitragen können (Problemstellung).
Grabhöhle innen
Grabhöhle außen
  1. In der Erarbeitung versetzten sich die Lernenden arbeitsteilig in eigens mitgebrachte Requisiten (Seile oder Kabelbinder als Fesseln; handgroße scharfkantige Steine) und in eine antike Grabhöhle, die auf einem Bild eingespielt wird. Aus der Ich-Erzählperspektive stellen sie den Gegenstand in einer Art Steckbrief vor. Impulse für die Fesseln / Steine können sein: Welche äußere Form besitzt du? Beschreibe deine Oberfläche, wie fühlt sie sich an? Was ist deine Funktion für Menschen? Impulse für die Höhle: Beschreibe dein äußeres und inneres Aussehen. Skizziere Sinneseindrücke, die jemand vermittelt bekommt, der dich betritt (Gerüche, Temperaturen, optische Eindrücke). Ziel dieser Übung ist es, die bedrohlichen Eigenschaften der Requisiten im Vorfeld konkreter Textbegegnung zu assoziieren, um sich später in die Szene/Figuren besser einfühlen und hineindenken zu können.
  2. Die Gruppen stellen ihre Steckbriefe in der Präsentation vor, beobachten Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
  3. Vertiefung: Die Lehrkraft spielt folgendes Zitat des Literaturdidaktikers Günter Waldherr ein und ruft ggf. Beispiele aus dem Deutschunterricht ab:
    „Der Raum einer Erzählung ist mehr als nur Schauplatz oder Kulisse der Handlung. Vielmehr ist es so, dass sich mit der Schilderung des Raumes eine inhaltliche Aussage verbindet. Dabei geht es dem Erzähler darum, zwischen der äußeren Welt und der seelischen Situation seiner Figuren Bezüge herzustellen.“  (G. Waldherr: Elemente erzählender Prosa, in: Deutsch betrifft uns (1990) H. 5, 1f.)
    Durch die Verknüpfung der bisherigen Arbeitsergebnisse mit dem Zitat wird die seelische Situation des Besessenen im Plenum abschließend profilierter erfasst und das Zusammenspiel von Raum und Seele als bewusste Erzählstrategie durchschaut. Mit Spannung kann die Fortsetzung der Erzählung, Ursache und Lösung der Krise erwartet werden.

Der existenzielle Gewinn handlungs- und produktionsorientierter Methoden zur Erschließung biblischer Erzählungen ist groß. Er setzt Mut voraus, die Didaktik beim Wort und sich Zeit für eine ausgiebige Textbegegnung zu nehmen. Die Erzählung über die Identitätskrise des Geraseners ist diesen Tiefgang wert. Sie „mal eben“ in einer oder zwei Stunden zu verhandeln hieße, sie und ihre Figuren didaktisch und theologisch zu begraben.   

Zum Weiterlesen

  • Weitere Ideen, wie Elemente aus dem Literaturunterricht im Religionunterricht angewendet werden können, findet ihr in diesem Blogbeitrag.
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