22. September 2022
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Wie alle Erzähltexte, so werden auch die Gleichnisse Jesu formal realisiert durch ein System von literarischen Binnendifferenzen, d. h. der Autor wählt aus vielen möglichen Textvarianten nur eine aus, um seine Absichten zu realisieren. Diese Gewähltheit des Textes öffnet die Tür für motivierende Methoden aus dem handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht.

Der Erfolg dieses methodischen Arrangements basiert auf der Beachtung von wichtigen Grundregeln in der Unterrichtsvorbereitung, die berücksichtigen, dass Lernende zu aktiven Mitgestaltern des Textsinns werden:

  • Nehmt euch Zeit für eine gründliche Sachanalyse des Textes, und weicht fremden, anstößigen oder neuen exegetischen / religionswissenschaftlichen Erkenntnissen nicht aus.
  • Bedenkt, welche Textpointen gemäß der Sachanalyse sinnvoll zu korrelieren sind. Wählt Methoden, die den Korrelaten sinnvoll zuarbeiten.
  • Macht euch bewusst, dass ein hastiges Drängen auf interpretatorische „Erkenntnisse“ dem Ansatz des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts widerspricht. Plant ausreichend Unterrichtszeit für die Methoden ein.
  • Bedenkt, dass brillante Erzähler den Raum einer Erzählung mit der psychischen Verfassung ihrer Figuren korrelieren lassen.

Beachtet ihr diese Grundsätze während der Vorbereitung auf eine Stunde zur Exposition aus der Parabel vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10, 25-30; gemäß griechischem Original, s.u.), so lassen sich folgende Akzente setzen (ab Klasse 9):

Textpointen und Korrelate erfassen

Ihr habt euch exegetisch über die Gattung der Gleichnisse/Parabeln informiert. Sie gehen im Kern auf den historischen Jesus zurück und spiegeln poetisch ausgeschmückte Vorstellungen vom Reich Gottes. Psychologisch scharfsinnig erzählt Jesus, warum die priesterliche Frömmigkeit seinem Verständnis von Religion geradezu im Wege steht. Nicht, weil Priester grundsätzlich schlechtere Menschen wären, sondern weil sie einem institutionellen System angehören, das einen infantilen Angstmechanismus fördert. Die durch religiöse Erziehung und Ausbildung vermittelte Angst der Priester vor Gott war schon zu Jesu Zeiten so stark, dass das Priestersein das Person-Sein völlig absorbiert hatte. Die Alternative lautete wie in der Parabel: Gott oder die Menschlichkeit. Um die Gottesfurcht zu beruhigen, floh bereits der antike Kleriker in die Abstraktion, griff auf wortreiche Rituale, Gesetzestexte, kontrollierte liturgische Korrektheit und die vermeintlich unfehlbare Tradition seiner Zunft zurück. Die Empathie blieb dabei – um im Bild der Parabel zu bleiben – förmlich auf der Strecke. Über das Handeln des damals kritisch beäugten Samaritaners verortet die Parabel aber Gott gerade nicht in veräußerlichter Form von Religion, sondern im vertrauensvollen Hören auf die Stimme des Herzens, in weitsichtiger Solidarität und im Mitleid gegenüber allem vergewaltigten Leben. Erst in der Überwindung der institutionell verwalteten Angst davor, ein Individuum zu sein, lag für Jesus ein Weg zu Gott.

Die Exposition birgt folgende Korrelate (kursiv):

Prägnant lässt die Lehrkraft die Parabel gemäß griechischem Original (nach E. Nestle / K. Aland: Novum Testamentum Graece, Stuttgart 2001) eröffnen mit „irgendein Mensch“ (Einheitsübersetzung: „Ein Mann“): Was jetzt geschieht, spiegelt das allgemeingültige Thema der (Un-)Menschlichkeit.

Die lapidare Schilderung des Gewaltverbrechens dient der Kontrastierung der Angst der Kleriker vor der Gesetzesübertretung mit dem Erbarmen des Samaritaners „aus den Eingeweiden heraus“ (Einheitsübersetzung: „Mitleid“). Das Bild verweist auf dem Bauch als Sitz der Gefühle. Im Hebräischen leitet sich das „Erbarmen“ vom „Mutterschoß“ ab und lässt die schützende, liebende Verbundenheit der Mutter zum noch ungeborenen Kind assoziieren. In solcher Bindung zum inneren Kind, zu Wärme und Güte offenbart sich das Göttliche, und es erteilt der neurotischen Härte gegen sich und Dritte eine Absage.

Für das Verständnis der Kontrastfiguren ist entscheidend, das ganze Ausmaß des Verbrechens zu realisieren. Drei Motive geraten ins Blickfeld: (a) Der steile, unübersichtliche Weg durch die steinige Wüste vom klerikalen Machtzentrum Jerusalem nach Jericho, seit dem Exodus symbolischer Ort für ein Leben in Frieden, Glück und Solidarität.  (b) Der äußerst brutale, gewissenlose Raub. (c) Das Oxymoron „halbtot“ (= logischer Widerspruch), das die Skrupellosigkeit der zahlen- und kräftemäßig überlegenen Räuber insofern veranschaulicht, als das Opfer ohne fremde rasche Hilfe nicht wird überleben können: Da verreckt irgendeiner auf dem Weg ins „gelobte Land“. Wäre es möglich, es käme jemand ohne ein Herz aus Stein?

Methoden stringent ableiten

Ich entscheide mich für die Methode Erprobung von Textalternativen

  1. Im Einstieg wird anhand der Exposition (ohne Rahmenerzählung) Raum gegeben, über aktuelle Gewalterfahrungen zu berichten.
  2. Sensibilisiert für die kriminelle Energie der Täter, kommt es in der Erarbeitung zur Erprobung der literarischen Binnendifferenzen:
    Du bist der Erzähler und überlegst, ob du das Ende der Exposition nicht etwas variieren kannst. Du erwägst folgende Alternativen:
    (a) …dann gingen sie weg und ließen ihn liegen.
    (b) …dann gingen sie weg und ließen ihn verletzt liegen.
    Spiele die Varianten gedanklich durch, und überlege, welche Bedeutungsverschiebungen sich durch sie im Vergleich zum Original ergeben. Tauscht euch in Partnerarbeit, danach im Plenum über eure Beobachtungen aus.
  3. Der Erzähler hätte die Exposition auch anders beenden können, er tat es nicht. Er entschied sich für das Adverb „halbtot“, dessen dramatisierende Funktion in der Auswertung der Ergebnisse reflektiert wird.
  4. Die Raumdeutung, unterstützt durch ein Bild und kurze Informationen zu Jerusalem und Jericho, dient der Vertiefung des Gewalt-Komplexes und betont den theologischen Protest gegen das Verbrechen. Die Gruppe überlegt: Warum lässt der Erzähler ausgerechnet hier einen Menschen krankenhausreif schlagen?

Die Erprobung von Textalternativen verzögert das Lesen und lässt die literarische Leistung von biblischen Erzählungen besser verstehen. Sie setzt Mut voraus, die Didaktik beim Wort und sich Zeit für eine ausgiebige Textbegegnung zu nehmen. Die Parabel über Gewalt, klerikale Neurosen und spontane Solidarität in einer oder zwei Stunden zu verhandeln hieße, das misshandelte Opfer erneut, didaktisch und theologisch, einfach links liegen zu lassen.    

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