28. April 2022
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Die Religionsdidaktik verlangt auch mit Blick auf biblische Erzählungen von Unterrichtenden kreative, motivierende Methoden. Betreten wir mit Lernenden die fiktionale biblische Welt, bietet sich der Rückgriff auf den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht an. Doch dessen Verfahren sind an Auflagen geknüpft.  

Will der Religionsunterricht nicht Antipathie gegenüber biblischen Texten fördern, sollte er die Lernenden zu aktiven Lesern machen, zu Mitgestaltern des Textsinns, die in ihrer Sinnlichkeit, ihren Emotionen, ihrer Fantasie und ihrem Tätigkeitsdrang angesprochen werden. Eigene Vorstellungen zum Text kreativ zu entfalten, ist die Basis des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts seit den 1990er Jahren, der sich mit Namen wie Gerhard Haas, Ingo Scheller, Kaspar Spinner u. a. verbindet. Seine Methoden sind nicht beliebig zu wählen und als Spielerei zu disqualifizieren, sind sie doch mit analytischen Reflexionen verknüpft. Der Erfolg handlungs- und produktionsorientierter Arrangements basiert auf der Beachtung von wichtigen Grundregeln bereits in der Unterrichtsvorbereitung:

  • Nehmt euch Zeit für eine gründliche Sachanalyse des Textes, und weicht fremden, anstößigen oder neuen exegetischen/religionswissenschaftlichen Erkenntnissen nicht aus.
  • Bedenkt, welche Textpointen gemäß der Sachanalyse sinnvoll zu korrelieren sind. Wählt eine Methode, die dem jeweiligen Korrelat sinnvoll zuarbeitet.
  • Macht euch bewusst, dass ein hastiges Drängen auf interpretatorische „Erkenntnisse“ dem Ansatz des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts widerspricht. Plant ausreichend Unterrichtszeit für die Methoden ein.

Beachtet ihr diese Grundsätze bspw. während der Vorbereitung auf eine Stunde zur Eröffnungssequenz aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,1–3.11–32), lassen sich folgende Akzente setzen:

Textpointen und Korrelate erfassen

Ich habe mich anhand einschlägiger Lehrerhand- und/oder exegetischer Kommentare über das Gleichnis und seinen Kontext ausreichend informiert. Nun gilt es, exemplarisch die Exposition des Gleichnisses, den Auszug des jüngeren Sohnes (Lk 15,11–13a), hinsichtlich ihrer Korrelate abzuklopfen. Folgende Textpointen und Korrelate (kursiv) lassen sich eruieren:

  • Die Erzählung wird im griechischen Original eröffnet mit: „(Irgend-)ein Mensch“. Der nun entfaltete Familienkonflikt steht damit unter dem Stichwort der Menschwerdung der Menschlichkeit, weist über geschlechtsspezifische Rollen hinaus, ist allgemeingültig und zeitlos.
  • Die Szene beinhaltet kein Konfliktpotenzial: Die Bitte des jüngeren Sohnes um sein Erbe ist keine freche Forderung und kein Akt der Untreue, sondern ein entwicklungspsychologisch, juristisch und ökonomisch notwendiger Schritt zur Gründung einer eigenen Existenz.
  • Der Vater unterstützt die Emanzipation, wobei der Erzähler mit einer überraschenden Antwort aufwartet: Fragt der Jüngere nach dem Vermögen (gr.: usía), so lässt der Erzähler den Vater daraufhin das Leben (gr.: tòn bíon) teilen, womit Erzähler und Vater vertrauensvoll der Freiheit der Selbstentfaltung zustimmen.
  • Mit dem Stilmittel der Litotes unterstützt der Erzähler den Mut und Drang des Sohnes, aus festen familiären Ordnungen auszubrechen und den eigenen Weg gehen zu wollen. Der Jüngere lässt „nicht viele Tage“ bis zum Aufbruch vergehen.

Methoden stringent ableiten

Ich entscheide mich angesichts der Textpointen für die Methoden Füllen einer gelöschten Kernstelle und Schreiben eines Akrostichons.

  1. Im Einstieg lesen die Lernenden den Erzählanfang, aus dem vorab der zentrale Begriff „Leben“ gelöscht wurde, und äußern sich spontan (Lk 15,11–13a). Eine rasche Textadaption wird vermieden.
  2. Dann wählen sie in der Erarbeitung aus Alternativen eine für sie treffende Formulierung: „Der (Vater) nun teilte für sie (a) das ersparte Geld/(b) den gesamten Besitz/(c) das Leben.“ Die Lernenden erproben literarische Binnendifferenzen, also Textvarianten, die für den Erzähler durchaus im Bereich des Möglichen lagen, auf die er aber (un-)bewusst verzichtet hat.
  3. Ihre Entscheidung sollen sie vor dem Plenum begründen (Präsentation) und gemeinsam überlegen, welche Deutungsunterschiede sich aus der Wahl eines bestimmten Ausdrucks ergeben,
  4. sodass das Profil des Originals, das hernach bekannt gegeben wird, deutlicher wird (Auswertung).
  5. Ein Akrostichon, ein reimloses Gedicht, greift zur Vertiefung/Sicherung die bisherigen Ideen der Lernenden auf und füllt den noch recht abstrakten Begriff „Leben“ aus der Perspektive des Vaters mit konkretem Inhalt.
  6. Persönliche Erfahrungen und Erwartungen fließen dabei mit ein (Transfer). Hier eine denkbare Lösung, die auf kreative Art belegt, dass und wie tief die Eröffnungssequenz durchdrungen wurde.

L ieben heißt loslassen, heißt

E ntwicklungen ermöglichen,

B angen,

E nttäuschungen riskieren und

N icht zuletzt: akzeptieren.

  1. Ein Vergleich der Exposition mit dem restriktiven Verhalten des Vaters aus dem Popsong „Father and Son“ von Cat Stevens unterstreicht die Ergebnisse (als Transfer oder Hausaufgabe).

Der existenzielle Gewinn handlungs- und produktionsorientierter Methoden zur Erschließung biblischer Erzählungen ist groß. Er setzt Mut voraus, die Didaktik beim Wort und sich Zeit für eine ausgiebige Textbegegnung zu nehmen. Das impliziert die Absage an hektisch abgearbeitete Ketten von Erzählungen in einer Reihe. Der Familienkonflikt im Gleichnis vom verlorenen Sohn ist die Zeit wert. Wie sonst sollten wir Verständnis für die Entstehung und Lösung von Lebenskrisen gewinnen?

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