27. März 2023
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Mit Blick auf biblische Erzählungen rücken kreative, motivierende Methoden des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts in den Fokus des Religionsunterrichts. Spannend wird es, Figuren biblischer Szenen auf jene großer Dichter treffen zu lassen – hier eine Szene aus der Heilung des Bartimäus. Diese Übung ist jedoch an hermeneutische Auflagen geknüpft.

Der Erfolg handlungs- und produktionsorientierter Arrangements basiert auf der Beachtung von wichtigen Grundregeln bereits in der Unterrichtsvorbereitung, die berücksichtigen, dass Lernende zu aktiven Mitgestaltenden des Textsinns werden:

  • Nehmt euch Zeit für eine gründliche Sachanalyse des Textes und weicht fremden, anstößigen oder neuen exegetischen/religionswissenschaftlichen Erkenntnissen nicht aus.
  • Bedenkt, welche Textpointen gemäß der Sachanalyse sinnvoll zu korrelieren sind. Wählt Methoden, die den Korrelaten sinnvoll zuarbeiten.
  • Plant ausreichend Unterrichtszeit für die Methoden ein. Die Religionsdidaktik fordert ein Arbeiten mit Muße, ohne Hetze.
  • Bedenkt, dass das Erzählelement der Figuren(-beziehungen) in der fiktionalen Literatur brillanter Erzähler sich hervorragend zur Korrelation mit biblischen Szenen eignet. Die aussichtslose Lage des Ich-Erzählers aus Franz Kafkas Parabel „Gibs auf!“ (1922) entspricht der perspektivlosen Ausgangssituation des Bettlers Bartimäus aus Mk 10, 46-52.

Beachtet ihr diese Grundsätze während der Vorbereitung auf eine zweistündige Einheit zur Dramatisierung aus der Erzählung über den Bettler Bartimäus (Mk 10, 46-52), lassen sich folgende Akzente setzen (ab Klasse 10):

Textpointen und Korrelate erfassen

Ihr habt euch exegetisch über die Gattung der Blindenheilungen informiert. Sie gehen im Kern auf den historischen Jesus zurück und spiegeln poetisch ausgeschmückte Heilungsprozesse von psychosomatischen Erkrankungen. Auslöser des stets getrübten und gesenkten Blicks ist extremer Lebensstress infolge des massiv gegen Bartimäus betriebenen Mobbings. Die Erzählung berührt jenseits der christologischen Stilisierung die Sehnsucht nach ganzheitlicher Heilung und sozialer Anerkennung, und sie protestiert gegen fragmentiertes Leben. Ihr betretet mit der Symptomatologie der Augen ein Themenfeld der integralen Medizin und Stressforschung (Psychische Auswirkungen auf Augen und Haut: Die Seele juckt und tränt; faz.net). Die Dramatisierung (Mk 10, 47-48) birgt folgende Korrelate (kursiv):

  • Bartimäus erhofft sich von dem Erscheinen Jesu umgehend ein Ende seiner Depression. Seine erwachte Lebensenergie verdankt sich einem plötzlich gewonnenen Urvertrauen: An seiner Person muss sich die malkuth Jahwe, die Macht des Erbarmens, als real erweisen. Der Bettler protestiert daher gegen den verinnerlichten Zwang zum Stillhalten. Wird dieses Vertrauen substanziell sein, obwohl das Mobbing in Jericho seine Seele bereits so zerkratzt hat, dass er sich gemäß dem griechischen Original in Mk 10, 51 nicht einmal mehr traut „aufzublicken“ (EÜ: „zu sehen“)?
  • Der gibt Zeugnis vom erwachten Selbstbewusstsein unter Berufung auf den Gott der Befreiung (Ex 3,7): „Ich habe (…) ihre laute Klage über ihre Antreiber gehört. Ich kenne ihr Leid.“ Bartimäus kauert auf dem Wegesrand am Ausgang einer symbolträchtigen Stadt: Die blühende Oase Jericho ist fester Bestandteil der Befreiungssagen Israels und repräsentiert das „Land, in dem Milch und Honig fließen“ (Ex 3,8). Bittere Ironie: Hier steht sie für Entfremdung, Verlorenheit, Kommunikationsabbruch. Ein solcher „Sitzenbleiber“, der nicht mehr mitkommt, ist von allen Feiern im Tempel ausgeschlossen – eine moralisch-theologisch disqualifizierte Randfigur.
  • Nun gibt es nach Markus Menschen in der (Ur-)Kirche, die etwas dagegen haben, dass die „da unten“ den Mund aufmachen, um an Leib und Seele genesen und sich im Status verbessern zu können. Mündigkeit provoziert den aggressiven Widerspruch der kirchlich Etablierten (gespiegelt in den Jüngern), die den Bettler im Namen Jesu mundtot machen wollen. Welche Hybris: Überzeugt davon, auf dem besten Weg zu Gott (im Jerusalemer Tempel) zu sein, spielen sich die Festpilger zum Sprachrohr Jesu auf und unterdrücken aufkeimende Veränderungen. Der Grund: Bartimäus konfrontiert die Konservativen mit ihrer Angst vor dem Verlust theologischer Exklusivität. Nur solange sie sich von „Sitzenbleibern“ moralisch absetzen können, erhalten sie von Gott und der Welt „eine Eins“ in Religion.
  • Strukturelle Analogie in Kafkas Parabel „Gibs auf!“: Der Ich-Erzähler beschreibt in wenigen Sätzen eine Atmosphäre der bedrohlichen Abhängigkeit von einer feindseligen übermächtigen Instanz, personifiziert durch einen Polizisten. Von dem Orientierungslosen verzweifelt um Hilfe gebeten, weist der Ordnungshüter süffisant jede Zuständigkeit zurück, zeigt ihm absurderweise sprichwörtlich die kalte Schulter und manifestiert mit dem zynischen Appell „Gibs auf“ dessen fehlenden Durchblick.
  • Die Autoritäten in beiden Erzählungen repräsentieren psychologisch gesehen unser Über-Ich, „viele“ gesellschaftliche und religiöse, seit Kindertagen verinnerlichte Anweisungen und Verbote, die zu psychischen und körperlichen Deformierungen führen. Indem aber der brüskierte perspektivlose „Bettler“ in uns unter Berufung auf den Gott der Befreiung das Vertrauen zu sich selbst zurückgewinnt und die Stimmen der höhergestellten Hüter von Moral und Ordnung auf freche Weise übertönt, hat unwiderruflich der Prozess unserer Selbstwerdung begonnen, der ganzheitliche Genesung und Resozialisierung So wird es Jesus in Mk 10, 52 gemäß griechischem Original auf den Punkt bringen: „Dein Vertrauen hat begonnen dich zu heilen.“ (EÜ: „Dein Glaube hat dich gerettet“).

Methoden stringent ableiten

Ich entscheide mich angesichts der Sachanalyse für die Methode der Textverfremdung (s. Arbeitsmaterialien auf der Kopiervorlage):

  1. In der Hinführung liest die Klasse die Parabel. Spontane Reaktionen münden in einer Reflexion der seelischen Verfassung des Erzählers (u.a. Verzweiflung, Stress, Orientierungslosigkeit), als dieser auf den Schutzmann trifft, dessen Charakter, eine Perversion seines eigentlichen Schutzauftrags, zugleich entlarvt wird (fehlende Empathie, Süffisanz, Arroganz).
  2. Mk 10, 46-48a wird gelesen und die Lernenden spekulieren, welche Funktion die Textverfremdung durch den eingeschobenen Imperativ „Gibs auf“ aus der Kafka-Parabel besitzen könnte (Problemstellung).
  3. In der Erarbeitung erstellen die Lernenden in Gruppenarbeit ein Standbild. Ein:e Schauspieler:in mimt den schreienden Bartimäus, „viele“ spielen die unterdrückende Menschenmenge. Die Lernenden sollen zur Gestaltung von Gestik und Mimik bewusst auf jene Eigenschaften zurückgreifen, die sie im Einstieg zur Charakterisierung des Ich-Erzählers und des Schutzmannes aus Kafkas Parabel entdeckten. Ist das Standbild erstellt, soll die Szene wie in einem Film eine Minute weiterlaufen: Wie setzen die Lernenden den sich zuspitzenden Konflikt des aufbegehrenden Bartimäus mit den kommandierenden Pilgern in Szene?
  4. Die Gruppen stellen ihre Szenen vor (Präsentation), in der Reflexion und Auswertung werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede benannt. Die Darsteller:innen des Bettlers beschreiben aus ihrer Rolle heraus, wie er sich jetzt fühlt, wie er die Masse empfindet, was aus seinem Plan, mit Jesus in Kontakt zu kommen, jetzt wird etc. Danach äußern sich die „Vielen“: Was war ihre Absicht, warum haben sie so reagiert, wie geht die Sache jetzt weiter etc.?
  5. Abschließend treten die Schauspieler:innen im Transfer aus ihrer Rolle heraus und äußern sich zu ihren persönlichen Gefühlen während des Spiels (an welchen Stellen war es unangenehm; kamen ihnen ähnliche Situationen aus dem Alltag in den Sinn; wie bewerten sie Bartimäus und die Pilger jetzt?). Die Zuschauenden sind eingeladen, sich zu diesen Reflexionen zu äußern.
  6. Vertiefung: Die Lerngruppe kehrt zur Problemstellung zurück und präzisiert die Hypothesen: Inwiefern trägt im Anschluss an das Szenische Spiel die Textmontage zur Deutung der psycho-sozialen Lage des Bartimäus bei? Mit Spannung kann die Fortsetzung der Erzählung, die Lösung der Krise erwartet werden. Dazu kann ausblickend das bis dahin ausgesparte Ende von V48 mit der tatsächlichen Reaktion des Bettlers auf das Schweigegebot bedacht werden.

Der existenzielle Gewinn intertextueller Erschließungen biblischer Erzählungen ist groß. Er setzt Mut voraus, die Didaktik beim Wort und sich Zeit für eine ausgiebige Textbegegnung zu nehmen. Die Erzählung über die psychosoziale Heilung des Bartimäus ist diesen Tiefgang wert. Sie „mal eben“ zu verhandeln hieße, dem Bettler noch einmal theologisch den Mund zu verbieten und ihn am didaktischen Wegesrand sitzen bleiben zu lassen.    

 

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