20. März 2024
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Autoritäres Denken und Handeln faszinieren wieder viele Menschen. Andere blicken zu Recht mit Sorge auf die Wahlen dieses Jahres, ob in Deutschland, in den USA oder anderswo. Ich stelle euch das faszinierende Bilderbuch „Der erste Schritt“ vor, in dem Pija Lindenbaum die Versuchung des Autoritären markant darstellt – und zeigt, wie sie sich brechen lässt.

„Das haben wir schon immer so gemacht.“ „Das ist doch normal.“ „So ist das nun mal.“ Bei Pija Lindenbaum gilt das für eine Linie, die niemand übertreten darf, und für die Unterscheidung von Primeln und Ringelblumen. Das sind diesmal keine Blumen, sondern Kinder aus der Ringelblumen- und der Primelgruppe. Die Linie markiert das Gebiet, in dem die Schäfin, eine beeindruckende, große und ein wenig wie eine Pfarrerin gekleidete Person, auf sie alle aufpasst und die deshalb auf keinen Fall überschritten werden darf.

Eine andere Grenze trennt die Primeln und die Ringelblumen. Die Ringelblumen dürfen spielen und toben, bekommen gutes Essen und machen Ausflüge. Die Primelkinder dürfen dabei zusehen. Außerdem dürfen sie die Kartoffeln schälen und nach dem Ausflug für alle die dreckigen Schuhe putzen. Das ist sehr praktisch für die Ringelblumen!

„Das ist doch ungerecht“,

stellt die Erzählstimme, eindeutig eine Ringelblume, eines Tages fest. „Ich mag es, wenn es ungerecht ist“, entgegnet die Schäfin darauf. Pija Lindenbaum erzählt eine Parabel von der Gerechtigkeit: Bald nach diesem kurzen Wortwechsel tauschen die Primeln und die Ringelblumen die Kleider, wechseln die Perspektive, wagen einen ersten, dann einen zweiten und viele weitere Schritte: Die Linie rund um die Siedlung, in der alle wohnen, ist keine Grenze mehr, das Gebiet jenseits von ihr verliert seinen Schrecken, und die Schäfin bleibt allein zurück. Die Gerechtigkeit siegt über eine Welt, in der Ungerechtigkeit und unsinnige, aber unhinterfragte Regeln selbstverständlich waren.

Die Faszination des Autokratischen

So weit, so gut und vielleicht auch erwartbar. Mich hat an dem Buch vor allem interessiert, wie es Lindenbaum gelingt, die Faszination und normative Kraft des Autoritären darzustellen. Die Erzählstimme nimmt Leserinnen und Leser mit in eine Welt, in der ungerechte Regeln normal sind. „Die Schäfin bestimmt immer, was wir machen. Wir müssen uns nie selbst was ausdenken. Und das ist ja sehr praktisch“, sagt sie. Und natürlich können die Primeln nicht mitspielen, wenn noch die Wäsche zu machen ist. „Bei so vielen Strümpfen dauert das ziemlich lange, deshalb können sie nicht mit uns Krocket spielen.“ Und von der vielen Arbeit werden sie „bestimmt groß und stark“! Klar.

Offenbar gibt es plausible, pragmatisch tragfähige Begründungen für die Herrschaft aus Ungerechtigkeit, die die Schäfin aufstellt. Erst, als der Erzählstimme der Einheitshaarschnitt, den die Schäfin immer mittwochs, immer mit demselben Kochtopf als Maß, allen Kindern verpasst, nicht mehr gefällt, kommen Alternativen in den Blick. Individualität schlägt Autorität und fragt nach Gerechtigkeit! Plötzlich werden willkürliche Grenzen überwindbar, Rollenbilder lassen sich verändern, bis schließlich alle in bunter Vielfalt frei leben können. Bis auf die Schäfin.

Im Religionsunterricht Normalität hinterfragen

Das Normale hinterfragen lernen: Diese eminent politische Botschaft des Bilderbuches passt wunderbar in den Religionsunterricht. Der hat von seiner Grundidee her die Aufgabe, das Normale anzuzweifeln, Normalitätsvorstellungen infrage zu stellen und für Gerechtigkeit einzutreten. Die Gottesfrage, die im Religionsunterricht verhandelt wird, hat das Potential genau dazu. Gott und sein Wirken sind nicht „normal“, sie durchbrechen und hinterfragen die Alltagserfahrung. „Der erste Schritt“ zeigt, wie wichtig das ist – auch außerhalb der Welt der Religionen!

„Der erste Schritt“: Das Buch im Unterricht

Ihr könnt „Der erste Schritt“ mit Kindern in Klasse 5/6 gemeinsam lesen und besprechen:

  • Wie erlebt das Erzähler-Ich das Leben in der kleinen Siedlung? Die Kinder sollten das möglichst genau beschreiben.
  • Dann könnt ihr darüber ins Gespräch kommen, wann dem Erzähler-Ich aufgeht, dass es in einer zutiefst ungerechten Gemeinschaft lebt.
  • Schließlich überlegt ihr gemeinsam, was so ein erster Schritt über Grenzen, die lange Zeit niemand hinterfragt hat, eigentlich bedeutet – und nach Beispielen aus der Lebenswelt suchen, wo solche kleinen ersten Schritte auch stattfinden (sollten).
  • Pija Lindenbaum lässt die Primeln und ihre Sicht der Dinge gar nicht zu Wort kommen. Wie wäre es, wenn ihr zum Schluss die Geschichte aus ihrer Perspektive erzählen lasst?

Für Schülerinnen und Schüler, die vielleicht weniger gern selbst in ein Bilderbuch schauen möchten, habe ich euch ein Arbeitsblatt vorbereitet.

Kostenlos zum Download

Der erste Schritt

von Pija Lindenbaum
mit Bildern von Pija Lindenbaum
übersetzt aus dem Schwedischen von Jana Hemer
48 Seiten
Klett Kinderbuch, ISBN 978-3-95470-276-3
ab 4 Jahren

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Den ersten Schritt gehen – das ist mehr als eine kleine Bewegung. Bis es dahin kommt, braucht es eine echte Lernbewegung, einen Perspektivwechsel. Pija Lindenbaums Buch kann euch und euren Lernenden dazu wirklich gute Anstöße geben!

Textquellen: Pija Lindenbaum: Der erste Schritt. Übers. v. Jana Hemer. Klett Kinderbuch Leipzig 2023
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