22. April 2024
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Nach wie vor ist Kants Friedensschrift aus dem Jahr 1795 hoch aktuell und kann auch gut im Unterricht als Ganzschrift erarbeitet werden – nicht nur im Kant-Jahr 2024.

Ein Höhepunkt der Arbeit mit Lernenden im Philosophie- bzw. Ethikunterricht der Oberstufe ist die Lektüre einer Ganzschrift (je nach Bundesland ist das nicht immer obligatorisch). Dazu bieten sich insbesondere Schriften an, die einerseits „kompakt“, also nicht zu umfangreich sind, andererseits aber auch Lernende nicht überfordern. Ansonsten wäre schnell das Gegenteil von dem erreicht, was man in der Auseinandersetzung mit einer philosophischen Ganzschrift bewirken möchte, nämlich zur selbstständigen Lektüre anzuregen. Schließlich besteht philosophisches Arbeiten nicht nur in der Analyse kurzer Textauszüge (diesen Eindruck könnten beispielsweise Schulbücher vermitteln), sondern in der reflexiven Auseinandersetzung mit komplexen Gedankengängen. Nachfolgend findet ihr daher eine Idee, wie man Kants Friedensschrift im Unterricht als Ganzschrift lesen kann.

Zur Aktualität von Kants Friedensschrift

In der Einleitung seiner Schrift schreibt Immanuel Kant (1724–1804), dass es der „süße Traum“ der Philosophen sei, ewigen Frieden zu schaffen. Trotz vieler Krisen und Kriege seiner Zeit sah Kant die politische Lage der Welt nicht zu pessimistisch und machte sich 1795 im hohen Alter daran, einen allgemeinen Friedensvertrag zu formulieren. Die Schrift ist keine Utopie in dem Sinne, dass der Vertrag niemals umzusetzen wäre, sondern ein Traum, der tatsächlich wahr werden kann. Es dauerte zwar einige Zeit, bis Kants Ideen Wirkung zeigten, aber im 20. Jahrhundert gründeten gleich zwei Vereinigungen auf der Friedensschrift: der Völkerbund (nach dem Ersten Weltkrieg) und die Vereinten Nationen (nach dem Zweiten Weltkrieg). Beide wurden nach schrecklichen Kriegserfahrungen in der Hoffnung gegründet, keine Kriege mehr führen zu müssen – und trotzdem ist bis heute noch kein „ewiger Frieden“ erreicht. Das wird an vielen Kriegen der Gegenwart deutlich. Zur Aktualität der Friedensschrift gehört übrigens auch, dass sich noch heute bekannte Philosophen auf Kants Schrift beziehen, etwa Jürgen Habermas, der in seinem Essay „Zur Verfassung Europas“ (2011) deutliche Bezüge herstellte.

Umsetzung im Unterricht

Persönliche Verortung: Warum hat Kant die Friedensschrift verfasst?

Die Lernenden sollen sich in die Situation Kants versetzen und die folgende Frage aus ihrem persönlichen Blickwinkel beantworten: „Warum möchte ich erreichen, dass ewiger Frieden erreicht wird?“ Die Motive der Lernenden dürften ähnlich zu denen Kants sein, auch wenn er seine Friedensschrift als hochbetagter Gelehrter geschrieben hat, der die Philosophie bereits revolutioniert hatte (im Bereich der Ethik und Erkenntnistheorie). Statt individueller Antworten der Lernenden wäre hier auch ein fiktives Interview mit Kant denkbar.

Der Aufbau der Friedensschrift

Kant hat seine Schrift als Vertrag formuliert. Man erkennt dies am Aufbau, der in zwei Abschnitten verschiedene Artikel bzw. Paragrafen als Voraussetzung für die Umsetzung beinhaltet, nämlich:

  • Vorwort
  • Erster Abschnitt: Sechs Präliminarartikel
  • Zweiter Abschnitt: Drei Definitivartikel
  • Erster Zusatzartikel: Von der Garantie des ewigen Friedens
  • Zweiter Zusatzartikel: Geheimer Zusatzartikel zum ewigen Frieden
  • Anhang I: Über die Misshelligkeit zwischen der Moral und der Politik in Absicht auf den ewigen Frieden
  • Anhang II: Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transzendentalen Begriff des öffentlichen Rechts

Die Friedensschrift lesen

Kant nennt nicht nur die Artikel, sondern macht es seinen Leserinnen und Lesern auch etwas einfacher, indem er im Anschluss ausführt, wie die Artikel gemeint sind. Die einzelnen Artikel sollten auch im Unterricht in der von Kant vorgegebenen Reihenfolge gelesen werden, eben weil sie aufeinander aufbauen. Die Präliminarartikel fungieren als eine Art „Fundament“, auf dem die Definitivartikel aufbauen. Die Präliminarartikel bilden zwar die Grundlage des künftigen „Friedensbundes“, aber die Definitivartikel definieren diesen Bund genauer, nämlich:

  1. Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein.
  2. Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.
  3. Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.

Hinweise für die Lehrkraft

Zeitlicher Aufwand

Man kann Kants Schrift in einer kurzen, etwa sechs bis sieben Stunden umfassenden Unterrichtsreihe behandeln. Die Reihe wäre wie folgt gegliedert:

  • kurze Einführung in die Schrift sowie Behandlung der Einleitung und der Präliminarartikel (2 Stunden)
  • Behandlung der Definitivartikel und (fakultativ) der Zusatzartikel (2–3 Stunden)
  • Aktualitätsgehalt (2 Stunden)

Methodische Umsetzung

Viele Methoden bieten sich an, die Artikel zu besprechen, z.B. das Kooperative Lernen. Als Beispiel für eine Besprechung im Unterricht dient hier der fünfte Präliminarartikel:

„Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.“

Kant kommentiert direkt danach:

„Denn was kann ihn dazu berechtigen? Etwa das Skandal, was er den Untertanen eines anderen Staats gibt? Es kann dieser vielmehr, durch das Beispiel der großen Übel, die sich ein Volk durch seine Gesetzlosigkeit zugezogen hat, zur Warnung dienen; und überhaupt ist das böse Beispiel, was eine freie Person der andern gibt, (als scandalum acceptum) keine Läsion (= Rechtsverletzung) derselben. – Dahin würde zwar nicht zu ziehen sein, wenn ein Staat sich durch innere Verunreinigung in zwei Teile spaltete, deren jeder für sich einen besonderen Staat vorstellt, der auf das Ganze Anspruch macht; wo einem derselben Beistand zu leisten einem äußern Staat nicht für Einmischung in die Verfassung des andern (denn es ist alsdann Anarchie) angerechnet werden könnte. So lange aber dieser innere Streit noch nicht entschieden ist, würde diese Einmischung äußerer Mächte Verletzung der Rechte eines nur mit seiner inneren Krankheit ringenden, von keinem anderen abhängigen Volk, selbst also ein gegebenes Skandal sein, und die Autonomie aller Staaten unsicher machen.“

Zugehörige Aufgaben:

  1. Lesen Sie den fünften Präliminarartikel und den Kommentar Kants. Notieren Sie alle Begriffe, die Ihnen unklar geblieben sind und schlagen Sie sie in einem Lexikon oder im Internet nach.
  2. Tauschen Sie sich mit Ihrem Sitznachbarn über den Inhalt des Artikels aus und geben Sie ihn in eigenen Worten wieder. Schreiben Sie eine kurze Erläuterung in Ihr Kursheft.
  3. Im Kurs sollen nun verschiedene Erläuterungen des fünften Präliminarartikels ausgetauscht werden. Einigen Sie sich auf eine Version, die Ihnen besonders verständlich erscheint. Sichern Sie diese mit einem geeigneten Medium (Tafel, Smartboard, Tablet etc.).
  4. Diskutieren Sie die Relevanz des Artikels. Warum erscheint er Ihnen in einem Friedensvertrag notwendig zu sein bzw. inwiefern könnte man ggf. auf den Artikel verzichten?

Eine Alternative wäre, dass der Artikel zunächst selbst von den Lernenden kommentiert wird. Im Anschluss kann dann Kants Kommentar zum Vergleich herangezogen werden. Man kann auch ein Unterrichtsgespräch ausgehend von den Artikeln führen. Die Lernenden haben oft gute Ideen, wie die Artikel zu verstehen sind. Analog kann mit den weiteren Präliminar- und Definitivartikeln verfahren werden.

Zum Ende der Reihe kann auch eine Präsentation erstellt werden, inwiefern Kants Schrift auch heute noch aktuell ist und zu einem „ewigen Frieden“ beitragen kann. Zudem ist denkbar, dass die Lernenden selbst eine Friedensordnung für die Mitte des 21. Jahrhunderts entwerfen, die sich an Kants Vorlage orientiert, aber Defizite zu umgehen versucht, wie sie heute etwa auch die Vereinten Nationen haben.

Herausforderungen für den Unterricht

Ganz ohne Zweifel ist es nicht nur für Lernende eine große Herausforderung, eine philosophische Ganzschrift zu lesen. Schwierigkeiten bereiten ihnen der komplexe Satzbau sowie altertümliche Begrifflichkeiten. Durch genaue Lektüre und Referenzwerke (Internet, Wörterbuch, Kant-Lexikon etc.) können diese aber ausgeräumt werden. Auch die Lehrkraft ist gefordert. Sie muss ein gutes Textverständnis und auch den Mut haben, in ein Unterrichtsgespräch über schwierige Textstellen einzusteigen.

Alles in einem ist es aber ein großer Gewinn, eine Ganzschrift wie diese zu lesen, weil ihr  nicht nur den Lernenden am Ende auf die Schultern klopfen können, sondern auch euch selbst! Durchhalten!

Quellenangaben: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Nachdruck der Ausgabe 1795. Schlüssel Verlag 1946

Literaturhinweise:

  • Als Ausgabe für den Unterricht empfiehlt sich: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Hrsg. von Rudolf Malter. Ditzingen: Reclam 2022.
  • Alternativ kann über das Projekt Gutenberg die Schrift auf Projekt Gutenberg auch online gelesen werden.

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