11. März 2024
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Für die einen ist er der größte Philosoph aller Zeiten, für die anderen ein Rassist, dessen Philosophie aufgrund rassistischer anthropologischer Voraussetzungen nicht mehr akzeptabel ist. Seit vor einigen Jahren Kants anthropologische Schriften kritisch gelesen werden, wird dieser Gegensatz immer wieder besprochen und natürlich auch in seinem Jubiläumsjahr aufgegriffen. Neben der Würdigung seiner Bedeutung sollte im Ethik- und Philosophieunterricht die problematische Seite des Philosophen daher nicht ausgespart werden. Dies kann etwa durch eine dialektische Erörterung erarbeitet werden.

Kants anthropologische Schriften

Schon der Titel einiger seiner Abhandlungen in dem Bereich lassen aufhorchen: „Von den verschiedenen Rassen der Menschen“ und „Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse“. Kant teilt die Menschheit in vier „Rassen“ ein, die eine Entwicklungs-Hierarchie bilden, in der die „europäische Rasse“ die Spitze bildet. Unstrittig ist, dass Kants naturgeschichtliche und anthropologische Schriften aus heutiger Sicht als rassistisch zu bezeichnen sind. Dazu kommt, dass darüber hinaus auch antisemitische und sexistische Passagen in seinen Werken zu finden sind. Sind diese Fakten nun so gravierend, dass dadurch die gesamte Philosophie Kants diskreditiert wird? Die Meinungen in der Forschung dazu gehen weit auseinander: Auf der einen Seite heißt es, dass die Anthropologie die Grundlage für alle weiteren Theorien Kants bilde und auf einem solchen nicht zu rechtfertigenden Menschenbild keine akzeptablen moralischen Theorien aufbauen könne. Andererseits wird argumentiert, dass Kant seine Anthropologie als „Kind seiner Zeit“ verfasst habe und es daher grundsätzlich in Ordnung sei, die problematischen Voraussetzungen seiner Theorien zu tilgen und den „überzeitlichen Kern“ weiterhin als große Philosophie zu betrachten. Was bedeutet diese Kontroverse nun für den Ethik- und Philosophieunterricht?

Sollte man Kant und seine Philosophie im Unterricht behandeln?

Die Antwort auf die Frage lautet eindeutig ja. Sich mit Philosophie zu beschäftigen, bedeutet nämlich nicht nur, Texte vor dem Hintergrund der eigenen Position auszuwählen oder wegzulassen. Es gehört immer – und zwar nicht nur bei Kant – auch dazu, sich mit den historischen Kontexten der Philosoph:innen, den wissenschaftstheoretischen Grundsätzen ihrer Zeit und dem Blickwinkel, mit dem wir heute auf ein Thema schauen, zu beschäftigen. Insofern sollten Kants Theorien im Unterricht weiterhin ihren Platz finden, wo sie zurecht immer schon besprochen wurden. Und es gehört dazu, deutlich zu machen, an welchen Stellen Kants Vorstellungen aus heutiger – und ggf. auch schon damaliger – Sicht problematisch sind und welche Stellen seiner Werke von diesen Vorstellungen beeinflusst wurden.

Die Diskussion über das Lesen von Kants Schriften im Unterricht aufgreifen: eine dialektische Erörterung

Grundsätzlich kann man Lernenden deutlich machen, dass die Beschäftigung mit einer philosophischen Theorie immer auch bedeutet, sich mit der Person des/der Philosophen/Philosophin und deren historischem Kontext zu befassen. Je nach Thema und Person kann das von einer Information durch die Lehrkraft über die Vergabe von Rechercheaufgaben zu Epoche und persönlichem Umfeld bis zur Erarbeitung einer ausführlichen Präsentation zur geistesgeschichtlichen Einordnung reichen. In höheren Klassenstufen bietet sich in diesem Zusammenhang zum Beispiel das Verfassen einer dialektischen Erörterung an, in der die Lernenden sich damit auseinandersetzen, ob man Kants runden Geburtstag angesichts seiner problematischen Positionen überhaupt feiern sollte:

Die dialektische Erörterung. So geht’s:

 These: Der 300. Geburtstag von Immanuel Kants sollte aufgrund seiner problematischen Anthropologie-Theorien nicht gefeiert werden.

  1. Argumente für eine These/Behauptung sammeln:
    Arbeite alle Argumente heraus, die für eine These/Behauptung sprechen. Beziehe dabei Werte und Normen mit ein.
  2. Gegenargumente sammeln:
    Nimm anschließend die Gegenposition ein und sammle entsprechende Gegenargumente. Beziehe auch hier Werte und Normen mit ein.
  3. Argumente gewichten:
    Arbeite heraus, welche Argumente und Gegenargumente dich jeweils am meisten überzeugen, und bringe die gefundenen Argumente in eine Reihenfolge von sehr wichtig bis nicht so wichtig. Begründe deine Reihenfolge.
  4. Ein eigenes Urteil fällen und begründen:
    Fälle auf Basis der abgewogenen Argumente ein abschließendes Urteil und begründe dieses.
    (vgl. Leben leben 3 S. 130)

Die Lernenden können Argumente für und gegen die These in einer Internetrecherche zusammentragen: Aufgrund des 300. Geburtstages Immanuel Kants sind zu diesem Thema viele aktuelle Artikel erschienen. Ist die Zeit dafür nicht ausreichend, können die Lernenden die wichtigsten Argumente in diesem Artikel finden.

Weiterführung der Diskussion: Der Kant-Blog

Nach dem Erstellen der Erörterungen können die Lernenden die Ergebnisse dazu nutzen, ihre Positionen in einem Blog für alle in der Gruppe sichtbar zu machen. Anschließend können sie dort untereinander kommentieren und diskutieren. (Zur Erstellung eines Blogs siehe z. B. die Hinweise in Leben leben 3, S. 151: So entsteht dein Internet-Blog oder die Tipps in diesem Blogbeitrag.

Im Anschluss bietet es sich an, weitere aktuelle Themen zu sammeln, die im Moment in der gesellschaftlichen Diskussion polarisieren und scheinbar nur ein „Entweder-oder“ kennen. Mithilfe der dialektischen Erörterung lassen sich auch hier die starren Positionen aufbrechen und eine begründete Diskussion kann zu neuen Perspektiven und begründeten Urteilen bei den Lernenden führen.

Kant als Rassisten abzustempeln und die Auseinandersetzung mit ihm und seinem Werk aus diesem Grund zu verweigern, sollte keine ernsthafte Option für den Ethik- und Philosophieunterricht darstellen. Im Gegenteil: Gerade die Auseinandersetzung mit seinen „unbequemen“ Seiten wird seinem immer noch gefeierten Leitspruch „sapere aude“ wesentlich mehr gerecht, als sich einer pauschalen Verurteilung oder einem generellen Freispruch seiner Person anzuschließen. Für die Lernenden bietet sich dazu die Chance, zu erkennen, dass auch in der Gegenwart eindimensionale Parolen und Positionen nicht als Antwort auf komplexe Fragen taugen.

Zum Weiterlesen

300 Jahre Immanuel Kant: Philosoph des Monats
300 Jahre Immanuel Kant: Kant-Quiz
300 Jahre Immanuel Kant: Kants Friedensschrift als Ganzschrift im Unterricht

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