22. Oktober 2021
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Denken wir an alttestamentliche Glaubensgestalten, dann fallen uns zunächst Namen wie Abraham, Isaak, Jakob, Mose und vielleicht noch Aaron ein. Vätergestalten, auf die sich das Volk Israel beruft. Nach außen hin war die Stellung des Mannes in der frühisraelitischen Stammesgesellschaft in der Tat dominant, doch viele Texte und Erzählungen weisen darauf hin, dass die israelitischen Frauen im familiären Bereich die kultische und religiöse Verantwortung trugen. Diese latenten Hinweise auf das Wirken der Frauen, auf die die Schriften des Alten Testaments zahlreich verweisen, schließen ein, dass auch hier bereits einige charismatische Frauen, wie beispielsweise Mirjam, die Schwester Mose, mit weitreichenden Folgen aktiv und spontan in das jeweilige Geschehen eingegriffen haben.

Mirjam übernimmt während der Befreiung des israelitischen Volkes aus Ägypten, dem Auszug aus dem Schilfmeer und der erfolgreichen Abwendung der Truppen des Pharaos eine zentrale Rolle. Sie stimmt den Lobgesang Jahwes, des Errettergottes, an, preist ihn gemeinsam mit ihren Schwestern und führt ihm zu Ehren einen Freudentanz auf. In der Schrift wird sie als „Prophetin“ (Ex 15,20-21) bezeichnet.

Mirjams Lobgesang

Als Bildimpuls kann ein Ausschnitt aus dem Misereor-Hungertuch des Jahres 1990 „Biblische Frauengestalten – Wegweiser zum Reich Gottes“ der indischen Künstlerin Lucy D’Souza-Krone dienen. Es zeigt im Vordergrund Mirjam, die die Handpauke als Ausdruck ihrer Freude, ihres Dankes und ihrer Erleichterung schlägt. Ihr blaues Kleid gilt als Symbol für Wasser und Leben. Mirjam steht damit für Leben, Freude und Hoffnung. Mit den vier Frauen, die sich an den Hüften umfassen, tanzt sie einen „Kreistanz“, der als Ausdruck von Solidarität und Gemeinschaft gedeutet werden kann. Mirjams Blick ist nach oben gerichtet, um Gott für die Befreiung und Lebensrettung zu danken. Das gesamte Bild vermittelt wellenartige Schwingungen, in denen das Element Wasser überwiegt und durch den gleichen Blau-Ton eine Einheit mit dem Himmel bildet. Die weiße Taube als Symbol des Friedens und der Freiheit schwebt über der Szene und begleitet sie.

Anregungen für den Unterricht

Mit der Betrachtung und Deutung des Bildes der Künstlerin Lucy D’Souza-Krone nähern sich die Schülerinnen und Schüler der Prophetin Mirjam. Das Bild ist z. B. in der Broschüre Auf Tuchfühlung. MISEREOR Hungertücher 1976-2020 (Seite 19) zu finden und kann so der Lerngruppe digital präsentiert werden. Über den Bibelimpuls (Ex 15,20-21) setzen sich die Lernenden mit Mirjams Schicksal und ihrer existenziellen Glaubenserfahrung auseinander und beziehen sie auf heutige Aufbruchssituationen.

(Variante: Als zusätzlicher Impuls kann dazu der die biblische Geschichte verfremdende Text von Eva Schirmer: „Politische Führerin – darf eine Frau das sein? Aus den unveröffentlichten Memoiren von Mirjam“[1] eingesetzt werden.)

Erkenntnisgewinn für die Lerngruppe

Mirjams Schicksal steht für eine Aufbruchssituation, einen Auszug ins Ungewisse. Mirjam weiß nicht, wohin der Weg sie führt, aber sie vertraut und hofft auf die Nähe und Führung Gottes. Sie erkennt (vor ihren Brüdern), dass Gott sie nicht im Stich lässt und ihnen auch in zunächst ausweglosen Situationen zur Seite steht, gemäß „Jahwe: Ich bin der, ich bin (für dich) da“. Mirjam überwindet ihre Zweifel; sie ist mutig und bereit, Sicherheiten aufzugeben, ihre Komfortzone zu verlassen. Ihr „äußerer“ Aufbruch wird durch ihren „inneren“ Aufbruch vorbereitet. Sie ist offen für Veränderung, will andere mitnehmen, sie von der guten Sache überzeugen und sie begeistern. Sie ist charismatisch und verbreitet damit unter ihrem Volk, vor allem unter Frauen, Solidarität, Freude, Dankbarkeit im Lobpreis Gottes. Allerdings wird sie nach dem erfolgreichen Auszug in den Hintergrund gedrängt, vergessen, mundtot gemacht, sogar durch die eigene Familie.

Mirjam – ein Glaubensvorbild?

Eignet sich Mirjam dennoch als Identifikationsmodell? Ja, gerade deshalb. Denn trotz des Der Gegenwind weht ihr entgegen, trotzdem gibt sie nicht auf. Sie deckt nicht nur (männliche) Machtstrukturen auf, sondern zeigt innere Stärke und Unabhängigkeit, befreit sich sogar aus diesen Strukturen und macht sie damit obsolet. Aus ihrem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl heraus reißt sie andere mit, ist sie charismatisch und überzeugend – Stärken bzw. Kompetenzen, die nach wie vor benötigt werden, um (Macht-)Strukturen zu verändern.

Indem die Lernenden die Szene des Bildes nachstellen, möglicherweise mit einer Handpauke eine Art „Kreistanz“ durchführen, wird in dem befreienden Tanzen und Singen die Solidarität der Frauen, ihre Freude und ihre Dankbarkeit Gott gegenüber besonders anschaulich, nachvollziehbar und bietet Identifikationspotential.

[1] Schirmer, Eva (1987), Politische Führerin – darf eine Frau das sein? Aus den unveröffentlichten Memoiren von Mirjam, in: Berg, Horst/Berg, Sigrid, Biblische Texte verfremdet, in 12. Bdn., Bd. 6, Frauen, Kösel, München – Stuttgart, S. 43-46

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