19. Mai 2022
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Coronakrise, Klimakrise und jetzt noch Krieg in Europa. Dazu Fake News von allen Seiten. Viele Menschen haben den Eindruck, nicht mehr zu wissen, wo ihnen angesichts dieser Krisenvielfalt und Informationsflut der Kopf steht. Da kann eine poetische Verdichtung des Erlebten Raum geben, um innezuhalten und gemeinsam mit den Lernenden eine Krisenreflexion zu erleben. Markus Pohlmeyer hat während der Corona-Pandemie über 250 Gedichte zum Thema verfasst.

Der Flensburger Theologe und Altphilologe Markus Pohlmeyer hat während der Corona-Krise zwölf Gedichtzyklen mit mehr als 200 Gedichten in der Internet-Zeitung culturmag.de veröffentlicht, vom 1. Mai 2020 bis zum 1. Juni 2021. Im November und Dezember 2021 sowie im März 2022 folgten drei Zyklen unter dem Titel „Rückkehr nach Corona“ mit weiteren 60 Gedichten, am 1. April 2022 ein Zyklus mit zehn Gedichten zum Krieg der russischen Föderation gegen die Ukraine, unter dem Titel „Tristia ex mari Baltico“ (Klagelieder von der Ostsee, die intertextuell an die „Tristia“ Ovids aus seiner Verbannung anschließen; der römische Dichter Publius Ovidius Naso, geb. 43 v. Chr., starb 17 n. Chr. am Ort seiner Verbannung, in Tomis am Schwarzen Meer, wo er seit 8 n. Chr. gezwungen war zu leben).

Die Gedichte zur Krisenreflexion im Unterricht

Kopiervorlage 1 weist auf sechs kürzere Gedichte hin, von denen zwei Zweizeiler kurze Aphorismen sind. Diese Texte lassen sich bereits ab der 7. Jahrgangsstufe einsetzen, können aber auch die Arbeit an den längeren Gedichten vorbereiten oder ergänzen.

Kopiervorlage 2 eignet sich für einen Einsatz ab der 10. Jahrgangsstufe. Sie bietet einen Vergleich von zwei längeren Gedichten: das fünfte Gedicht des ersten Zyklus vom Mai 2020 (vgl. Leben gestalten Qualifikationsphase, S. 133) und das siebte Gedicht des letzten Zyklus vom April 2022.

Kopiervorlage 3 liefert eine paraphrasierende Interpretation dieser Gedichte für Lehrkräfte.

Beachtet auch die weiteren Hinweise zu den Kopiervorlagen am Ende dieses Beitrages.

Corona-Krise als Wahrnehmungshilfe: Was ist uns wichtig?

  1. Gedicht 10 aus dem Corona-Zyklus VI vom November 2020 stellt eine Frage, die auf eine häufig geteilte Beobachtung hinausläuft: Dass die Corona-Krise verborgene Strukturen und damit blinde Flecken innerhalb der Gesellschaft und des menschlichen Handelns zum Vorschein brachte. Das können negative (z. B. Einsamkeit, Schwächen des Bildungssystems, Geldgier bei Maskendeals etc.) aber auch positive Dinge sein (z. B. Solidarität mit den Erkrankten, Anerkennung von Menschen in unterbezahlten und gleichwohl systemrelevanten Berufen, Wertschätzung des in den Lockdowns schmerzlich Vermissten etc.).
  2. Gedicht 14 desselben Zyklus spielt mit der Ähnlichkeit der Worte zählen und zahlen. Es plädiert implizit für ein funktionierendes Gesundheitssystem und eine solidarische Gesellschaft.
  3. Gedicht 18 aus dem Corona-Zyklus IX vom März 2021 bietet eine Verfremdung des Vaterunsers, indem es den Konsum von Social Media und die Allmacht der Smartphones aufs Korn nimmt. Im aktuellsten Gedicht zum Krieg in Europa (KV 2) werden ebenfalls zwei Vaterunser-Bitten verfremdet (KV 3). Im Unterricht kann das erste Wort „Handyunser“ weggelassen werden, um die Lernenden kognitiv zu aktivieren, indem sie ein passendes Wort suchen.

Nachdenken über Corona: Was hat die Pandemie der Menschheit gebracht?

  1. Gedicht 6 aus dem Corona-Zyklus 12 vom Juni 2021 stellt mit einem Wort und einem Zeichen die Frage, was „Corona?“ der Menschheit gebracht habe. Die Antwort ist zweideutig: War die Pandemie „vollkommen überflüssig“, weil „wir Menschen“ das „auch so“ – also ohne Corona – hinbekommen? Die Leerstelle ist das „Das“. Hier können eure Lernenden diskutieren. Im gleichen Zyklus wird in Gedicht 5 auf den Klimawandel und die menschliche Gier angespielt. Es dürfte sich folglich darum handeln, dass sich die Menschen aufgrund ihrer Gier nach Rohstoffen, nach Geld und Macht selbst vernichten. Aber in Gedicht 7 geht es um den Freundschaftsdienst gegenüber einem an Corona verstorbenen Freund: Nämlich über ihn zu erzählen. Auch das bekommen wir ohne Corona hin – auch wenn der Freund ohne Corona noch am Leben wäre …
  2. Gedicht 18 aus dem ersten Zyklus „Rückkehr nach Corona“ vom November 2021 interpretiert die vieldiskutierten „Drei Gs“ der Corona-Regeln auf eigensinnige Weise im Duktus des Zyklus‘ „Gier/Geiz/Geld“. Im Unterricht können die Jugendlichen vor der Lektüre gebeten werden, ihre Erinnerungen an die Corona-Krise durch drei Wörter mit G zu fokussieren.
  3. Gedicht 13 aus dem Zyklus „Rückkehr nach Corona III“ vom März 2022 vergleicht die Menschheit mit dem Corona-Virus. Ist die Menschheit ein Virus, das seinen Wirt – seinen Planeten – tötet? Was sind die „so richtig, richtig miesen, / Fiesen Viren“? – Ein Anlass, um mit euren Lernenden zu philosophieren.

Zu den Aufgaben der Gedichte auf Kopiervorlage 1

Das Experimentieren mit dem Vortragen der Gedichte soll eurer Lerngruppe helfen, die Sprachspiele Pohlmeyers herauszuarbeiten und ihre Ausdruckskraft zu würdigen. Eure Lernenden können sich eines der sechs Gedichte aussuchen, um es auswendig zu lernen. Weitere Gedichte lassen sich auf culturmag.de schnell finden; ggf. können sich die Lernenden dort selbst Gedichte aussuchen, die ihnen besonders gefallen. In Partner- oder Gruppenarbeit können sie sich dieselben Gedichte gegenseitig vortragen und die unterschiedlichen Wirkungen je nach Vortragsweise diskutieren. Anschließend können im Plenum die als besonders wirksam bewerteten Performances gemeinsam angehört und inhaltlich diskutiert werden. Abschließend werden die Lernenden dazu angeregt, selbst Gedichte zu schreiben, mit denen sie ihre eigenen Erfahrungen mit der Corona-Krise reflektieren.

Corona und der Krieg: Krisenerfahrungen im Vergleich?

Beide Gedichte auf Kopiervorlage 2 verbinden mehrere gesellschaftliche Krisenerfahrungen. Im ersten Gedicht stehen die Corona-Krise und der Klimawandel angesichts einer kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung im Zentrum, während im zweiten Gedicht angesichts des Kriegs die Corona-Krise in den Hintergrund rückt – obwohl sie in den Nachrichten „zuerst“ (Z. 4) vorkommt. Beide Gedichte thematisieren Lüge und Schuldverdrängung, Flucht vor Verantwortung und die Frage nach dem Vertrauen. Sie kommt im ersten Gedicht implizit am Ende im stillen Ruf nach dem Erbarmen Gottes (in Klammern) zum Ausdruck, und wird in der vierten Strophe des zweiten Gedichts explizit gestellt. Fragen nach der Bedeutung von Gott, Kirche und Religion werden auf diese Weise eingespielt, aber nicht beantwortet. Sie bleiben als Leerstelle der Rezeption des Gedichts überlassen: Kann ich mich der Bitte um das Erbarmen Gottes anschließen? Welches Vertrauen bringe ich der Metapher Gott bzw. seiner katholischen (im Sinne von allgemeinen, für alle offenen) Kirche noch entgegen? Stimme ich in das schuldvergessene Beten ein, das die Vaterunser-Bitte pervertiert – und doch auf paradoxe Weise unserem widersprüchlichen Verhalten zu entsprechen scheint? Beide Gedichte sind politisch engagiert und fordern zu Stellungnahmen heraus (vgl. die Interpretationen auf Kopiervorlage 3).

Zu den Aufgaben der Gedichte auf Kopiervorlage 2

Nach dem Vergleich der Gedichte können die Jugendlichen das kunstvolle Arrangement der beiden Gedichte erkennen, die mit rhetorischen Fragen, Zeilen- bzw. Strophensprüngen, Metaphern wie „dem fliehenden Bahnhof“ (2. Gedicht, Z. 27), Alliterationen etc. zum Innehalten und Reflektieren einladen (s. o. die knappe Darstellung der Themen). Das ästhetische Urteil fordert zur Positionierung heraus. Gefällt euren Lernenden eher das kürzere Gedicht mit dem religiösen Hilferuf am Ende, das deshalb vielleicht versöhnlicher wirkt, oder das längere Gedicht, das lapidar mit dem Nebenbei-Hören von Nachrichten beginnt, dann aber mit ätzender Kritik an unserem Medienkonsum und verfremdeten Vater-unser-Bitten die je eigene Heuchelei zu entlarven vermag?

Die Beschäftigung mit den Gedichten kann Jugendliche kognitiv und emotional aktivieren. Wir sind gespannt auf eure Erfahrungen und würden uns über Rückmeldungen sehr freuen.

Zum Weiterlesen

Markus Pohlmeyer
Als ich zu den Sternen ging. Dritter Teil. Die Corona-Zyklen I-VI. Gedichte. Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 22/Vierter Teil.
Die Corona-Zyklen VII-XII. Gedichte. Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 24. Igel Hamburg 2021

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