9. April 2024
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Bei einer Lehrerfortbildung zum Propheten Jona verlässt eine Kollegin abrupt und erbost die Veranstaltung mit der Begründung, die berühmte Fischbauchszene sei unmöglich tiefenpsychologisch auszulegen, wie von mir vorgestellt. Der Bauch der Fischin als ambivalenter mythischer Topos einer Regression, Symbol des Todes (Grab) und der Neugeburt (Uterus) zugleich – das kann, das darf nicht sein! Wie ist die aggressive Reaktion der Kollegin zu erklären?

Jüdische und christliche Exegese sind sich einig: Das Buch Jona ist durchgängig Dichtung, sein Erzähler hat kein historisches Interesse, sein Stil ist märchenhaft, novellistisch und mythisch, seine Figuren sind entsprechend typenhaft gezeichnet. Konzipiert als innerjüdische Lehrerzählung, entwirft dieses Werk der Weltliteratur Bilder von etwas Grundsätzlichem, wesentlich Menschlichem: Es malt den Menschen, wie er an sich sein kann – im sozio-psychologischen, auch im religiösen Sinn. Die korrelative Verstrickung unserer Schüler:innen mit den zeitlosen Charakteren ist, nimmt man die Korrelationsdidaktik ernst, zwingend an hermeneutische Bedingungen geknüpft:

  • Nehmt euch Zeit für eine gründliche Sachanalyse des Buches, und weicht fremden, anstößigen oder neuen exegetischen/religionswissenschaftlichen Erkenntnissen nicht aus. Dazu zählt die Einsicht, dass das Buch Jona ursprungsgeschichtlich gesehen eine kritische Haltung gegenüber fundamentalistischem Dünkel einnimmt. Entstanden in der Perserzeit (ca. 6.–4. Jhd.), nach dem babylonischen Exil (586 v. Chr.), wendet es sich gegen jene Exilrückkehrer:innen, die die Exklusivität Jahwes in Abgrenzung zu den Heiden vehement fordern. Durch die äußerst positive Zeichnung der Heiden konterkariert das Buch Jona jede ängstliche Tendenz zu religiösem Exklusivismus.
  • Bedenkt, welche Textpointen gemäß der historisch-kritischen Analyse sinnvoll zu korrelieren sind. Der Alttestamentler Jürgen Ebach kritisiert in diesem Zusammenhang wie viele Exegeten den verengten Blickwinkel, den zahlreiche Religionsbücher einnehmen, indem sie die Fischbauchszene überdimensionieren. Der große Fisch hat grundsätzlich nicht mehr Gewicht als die weiteren Raumrequisiten (wie etwa der Ort Tarschisch, das Meer, das Schiff, der Rizinus, die Hütte, die Stadt Ninive, die Kleidung der Niniviten, der Thron des Königs). Dass Lehrkräfte dazu neigen, Jonas Fischaufenthalt zu stark zu gewichten und zudem fragwürdig zu interpretieren, kommentiert Ebach wie folgt: „Eine auf die im und aus dem Fisch reduzierte Auslegung verfehlt eben die Probleme, die mit dem Ausspeien Jonas (2,11) gerade nicht gelöst, sondern verschärft gestellt sind.“ (Jürgen Ebach: Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals. Athenäum Frankfurt/M. 1987, S. 26) Ebach diagnostiziert einen Verdrängungs-, einen regelrechten Walfischkomplex bei den Unterrichtenden, insofern von Lernenden unentwegt „Walfische (!) gemalt werden, nicht allein während, sondern weil damit die bedrängenden Fragen verdrängt werden.“ (S. 28) Zu diesen Fragen zählt unbedingt die Reflexion darüber, warum der Fisch angesichts von Jonas Gebet regelrecht das Kotzen bekommt.
  • Nehmt ernst, dass die historisch-kritische Exegese von einer „Therapie“ spricht, der sich Jona und Jahwe zu stellen haben. Diese Therapie kann die tiefenpsychologische Exegese erhellen: Ein Leitmotiv der Erzählung ist die Verdrängung, das (häufig unbewusste) Abspalten von Sehnsüchten, Wünschen und Charakterzügen, die wir vor der Welt nicht gerne zeigen, gerade weil sie oft der gesellschaftlichen Norm nicht entsprechen. Die Therapie Jonas und Jahwes lässt sich als Schattentherapie deuten, als Individuationsprozess, bei dem Leser:innen mit den Figuren lernen können, die hinter einer Alltagsmaske verborgenen Züge, den Schatten zu akzeptieren und ihn in das Leben heilsam zu integrieren (hier: die Fähigkeit zu Empathie und Gnade, die von kasuistischem, moralinsaurem und aggressivem Gebaren überdeckt wird).
  • Folgt der korrelationsdidaktischen Prämisse, dass gerade gelingende Beziehungen sowohl in der biblischen als auch in der Kinder- und Jugendwelt Hinweise geben auf einen Beziehung stiftenden Gott, der sich im Verhältnis zu mir, zu Dritten und zur Natur nach einem Wort der feministischen Theologin C. Heyward „als eine Art Dritte Macht“ erfahren lässt (vgl. Carter Heyward, Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung, Stuttgart 1986). Wie im Buch Jona, so wird auch in vielen ntl. Erzählungen die malkuth Jahwes, das Reich Gottes bis heute dort zur Sprache gebracht, wo zwischenmenschliche Beziehungen so optimiert werden können, dass sich ein Raum der Gerechtigkeit (hebr.: Zedakah) eröffnet, nach atl.-jüdischer Vorstellung einer der höchsten Lebenswerte. Er impliziert das Heil von Seele und Körper in humanen Beziehungen – ohne Angst vor einem als mühsam und sinnlos empfundenen Tag, vor Mobbing, Gewalt und Enttäuschung. Das Buch Jona erzählt, dass der angesichts des Mobbings in Ninive unduldsam agierende Jahwe (vgl. Ex 34,7) erst von den umkehrenden Niniviten therapiert und an seine Anima-Seite erinnert werden muss, um mit ihnen, darunter die völlig unschuldigen Kinder und Tiere, nachsichtig umzugehen (vgl. Ex 34,6). Der Erzähler lässt offen, ob sich Jona vom Ende der strukturellen Gewalt in Ninive ebenso beeindruckt zeigen kann wie Jahwe oder ob er weiterhin hartherzig den strafenden Gott gegen den verzeihenden sichern will und folglich verschattet bleibt.

Bettet ihr die Fischbauchszene ausgewogen anteilig in eine Unterrichtsreihe ein, lassen sich zu ihr folgende Akzente setzen (ab Klasse 9):

Textpointen und Korrelate erfassen

  1. Jona soll nicht nach Ninive gehen, um dort zu missionieren, sondern weil Jahwe das destruktive, asoziale Verhalten der Niniviten unerträglich ist und der Prophet ohne Wenn und Aber das Ende der Stadt zu verkünden hat. Vom späteren Verlust seiner Selbstkontrolle her wird deutlich, warum Jona diesem Auftrag ausweichen möchte. Er befürchtet, öffentlich als falscher Prophet dazustehen, sollte Jahwe – wie offenbar schon oft – in letzter Sekunde von seiner Gnadenlosigkeit abweichen und Ninive doch noch verschonen. Die Spannung zwischen den widersprüchlichen Gottesbildern (Dtn 18 vs. Ez 18) reißt ihn runter, wie das Motiv des mehrfachen Hinabsteigens in der Exposition veranschaulicht. Jona verkriecht sich, und weil er mit sich so am Ende ist, glaubt der Depressive, durch eine Flucht aus der Situation an das damalige Ende der Welt (Tarschisch) auch dem inneren Konflikt entgehen zu können.
  2. Bis zum Ende identifiziert sich Jona mit dem Gottesbild aus Dtn 18, er zeigt sich als rigider Moralist, der für die Niniviten keine Gnade kennen will, während der Erzähler für eine Anthropologie und Theologie der Güte plädiert. Die Vernichtung anderer erfüllt Jona mit Befriedigung, er lebt eine Identität des unbarmherzigen Widerspruchs, klammert sich an religiöses Gesetz und Dogma. Er ist nicht bereit, Unrecht bekommen zu wollen, weil und wenn das Leben Dritter so noch ermöglicht würde. Das Plädoyer des Erzählers lautet, diesen Typ von Religion aufzugeben, in dem Gott mit dem Über-Ich identisch ist und in dem das Ich außengelenkt und ohnmächtig ist. Angemahnt wird dagegen eine (religiöse) Identität, die vom Ich ausgeht, von situationsgerechten, mutigen Entscheidungen, die offen sind für Dialog und Nachsicht.
  3. Der Weg dorthin ist steinig: Jona wird auf eigenen Wunsch über Bord geworfen, die Flucht vor der eigentlich anstehenden Aufgabe wird als sinnlos erlebt und gipfelt im Suizidwunsch. Doch nach Jona 2,2–11 erhält der Erschöpfte die letzte Chance einer Regression, d. h. in der tiefsten Nacht (der Grund des Meeres grenzt im Weltbild der Hebräer an das Totenreich, die Scheol) ist dem Suizidalen ein Moment des Ausruhens, der Geborgenheit und der nötigen Selbstreflexion geschenkt, um der Resignation zu entkommen. Ob der Depressive die Regression im Bild gesprochen als Mutterschoß für einen Neuanfang (Progression) nutzt oder ob ihm der Bauch zum Grab (Süchte, Selbstmord) wird, ist nicht von vornherein auszumachen. Dem mütterlichen Aspekt der Geborgenheit entsprechend, variiert der Erzähler das grammatikalische Geschlecht und lässt Jona solange im Bauch der Fischin, bis er dem Fisch übel aufstößt.
  4. Der Grund liegt nach mehrheitlicher exegetischer Auffassung in dem bigotten Gebet Jonas. Der sog. Jonapsalm besteht aus Versatzstücken des Psalters und verleiht dem Gebet damit bewusst einen konservativ-traditionellen Anstrich. So sehr die darin gemalten Naturbilder realistischer Ausdruck der Verzweiflung sind, so sehr verkommt Jona hier zum egozentrischen Anti-Helden, der selbstgerecht die Nase über die Heiden rümpft. Bis eben noch vor Jahwe auf der Flucht, feiert er im Größenwahn die Rettung, indem er selbstherrlich den Fremden projektiv ideelle Entfernung von Jahwe vorwirft und dabei eine „Privatreligion“ (Ebach) etabliert. Er mimt den Frommen und inszeniert sich mit wortgewaltiger Schwulstigkeit. Der Jonapsalm ist bittere Ironie, mit der der Erzähler Bigotterie und religiösen Dünkel aufs Korn nimmt. So entkommt Jona durch den Würgereiz des Fisches dem Suizid, aber eine Reflexion über die Ursachen seiner Depression bleibt aus. Will er wirklich zu sich selbst finden, muss er nach Ninive gehen und sich dort seinem Schatten stellen.

Didaktischer Ausblick

Depression, Suizidgefahr, Regression, Bigotterie: Die aus der Analyse abgeleiteten Korrelate machen deutlich, wie modern und anspruchsvoll das Jonabuch gelesen werden kann, denken wir nur an die aktuellen Forschungsergebnisse zur Volkskrankheit Depression (besonders unter Jugendlichen). Didaktische Nebelbomben wie das romantisierende Malen von Fischen werden diesem essenziellen Gehalt nicht gerecht.

Der existenzielle Gewinn nicht allein der Erschließung der Fischbauchszene mithilfe der Tiefenpsychologie ist groß. Er setzt den Mut der Lehrenden voraus, sich in der Unterrichtsvorbereitung Zeit für eine exegetisch ambitionierte Textbegegnung zu nehmen. Die Flucht aus dieser Konfrontation dokumentiert die Ohnmacht des Ichs. Sie ist keine professionelle Haltung, die Bagatellisierung der Erzählung durch das ziellose Malen von Fischen keine didaktische Alternative. Man kann mit dem Jona-Erzähler der aufgebrachten Kollegin und allen Verfechtern von funktionslosen Walbildern nur wünschen, ihre Wut über bislang verdrängte Schattenreflexionen in den Arm nehmen zu können.

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