24. April 2023
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Sommerferien zu Hause sind langweilig und öde? Nicht so in Gulraiz Sharifs fulminantem Jugendroman „Ey hör mal!“. Darin geht es um norwegische und pakistanische Norweger, Fremdenfeindlichkeit, Migration, interkulturelle Begegnungen, Gottes Liebe und um die Frage, wie es ist, wenn der kleine Bruder lieber eine kleine Schwester sein würde. Ein Buch für euch, für eure Lernenden und für euren Unterricht.

Sommerferien. Für Mahmoud keine große Sache. Wegfahren geht nicht. Wegfahren können sich nur die norwegischen Norweger leisten, aber für ihn, einen „Ausländer ohne Asche“ (S. 7), einen pakistanischen Norweger, ist das einfach nicht drin. Der Vater muss weiter Geld verdienen, die Mutter den Haushalt machen, Mahmoud selbst den Müll runterbringen und einkaufen. Nur Ali, der jüngere Bruder, darf diesen Sommer noch vor allem spielen.

Auf Mahmoud dagegen kommt noch eine weitere Aufgabe zu. Er muss Onkel Ji, der mit einem Zweimonatsvisum aus Pakistan zu Besuch kommt, Land und Leute zeigen. Onkel Ji: Das ist der, der in Pakistan hochwertige Lack- und Lederwaren für reiche reitende Europäer herstellt. Zumindest glaubt er das. Mahmoud muss ihm behutsam erklären, dass die vermeintlichen Reitpeitschen einen ganz anderen Zweck erfüllen. Für den traditionellen Muslim eine Herausforderung.

Denn bei der Stadtrundfahrt durch Oslo entdeckt der Onkel neben freizügiger Werbung, einem FKK-Strand und von Mahmoud souverän und kostengünstig per App präsentierten Museen genau die Lederkleidung, die in seiner Firma hergestellt wird. Aber eben nicht auf einem Reitplatz …

Street-Credibility pur

Gulraiz Sharif ist Norweger, Lehrer, pakistanischer Herkunft und ohne Berührungsängste zum – von Meike Blatzheim und Sarah Onkels glänzend übersetzten – Ghetto-Slang der Osloer Vorstädte. Sein Roman wirft aus der Perspektive zugewanderter Norweger, die nirgends richtig dazugehören dürfen und in der multikulturellen Vorstadt zu Hause sind, Blicke auf die Mehrheitsgesellschaft, die zugleich urkomisch und gnadenlos entlarvend sind. Seitenhiebe auf die norwegische Politik, die sich deutschen Leserinnen und Lesern ohne tiefere Norwegen-Kenntnisse nicht sofort erschließen, stören dabei überhaupt nicht, sondern legen analoge Diskussionen hierzulande zielgenau bloß.

Und dann ist da noch die Sache mit Ali. Der nutzt die Sommerferien eben nicht nur zum Spielen, wie es sich für den kleinen Bruder – Ali ist zehn – gehören würde. Ali ist diese Ferien noch stiller als sonst. In der Moschee schnieft er merkwürdig, anstatt sich zu entspannen und bei Gott zu chillen (Mahmouds Erzählerstimme sieht keine Veranlassung, um Gottes Willen auf den Ghetto-Slang zu verzichten), dann platzt es aus ihm heraus: Hat Gott mich falsch gemacht?

Gott und Gender und Islam – und ich

Und plötzlich ist da nicht nur der traditionelle Pakistani Ji, dem das liberale Norwegen so gut gefällt, dass er gar nicht mehr zurück will, sondern auch Ali, der lieber Alia sein möchte und damit nicht nur Mahmoud und Ji, sondern auch seine Eltern und jede Menge weiterer Leute arg herausfordert. Als Alia dann auch noch Camilla heißen will, wird es selbst Mahmoud zu viel:

„Ich erklär ihr: ‚Es muss ein muslimischer oder pakistanischer Name sein!‘ Sie kann jetzt nicht plötzlich Camilla oder Emma werden! Wannabe-Weiße! Es muss schon in ’nem bestimmten Rahmen bleiben und da passt Alia super. So integriert, dass sie jetzt Camilla heißt, muss sie jetzt auch nicht werden, es reicht, dass wir sie jetzt als Mädchen akzeptieren, Bruder. Sie testet echt Grenzen aus!“ (S. 196)

Und da kann Mahmoud auch zurückkeilen: „Du weißt schon, dass wir dich zwingen werden, ’nen Hijab zu tragen, oder? So ’nen Kinder-Hijab!“ (S. 197)

Aber da macht er dann doch nur Spaß.

Ich bin beim Lesen aus dem Lachen nicht herausgekommen – und habe zugleich jede Menge gelernt: über norwegische und pakistanische Norweger natürlich, über fremde Perspektiven – und über mich, meine Vorurteile, meine eigene kleine Welt.

Ey hör mal! – Ein Buch für eure Lernenden

Die alltagsnahe, für ein Jugendbuch immer noch eher ungewöhnliche Sprache, die Themen und der unkomplizierte Bezug zu Religion, Tradition und Konvention machen „Ey hör mal!“ zu einer Fundgrube für den Religions-, aber auch für den Deutsch- oder Politikunterricht. Vielleicht lest ihr das Buch ja mit den Fachkolleginnen und -kollegen gleich gemeinsam, lasst euch eure eigenen Vorurteile von Mahmoud entlarven und spinnt Ideen, wie ihr gemeinsam mit der Geschichte in den Unterricht gehen wollt?

Ich habe euch ein Arbeitsblatt mit einer Szene zu Ali-Alia mit Arbeitsimpulsen zusammengestellt – siehe Download unter dem Beitrag. Da geht es vor allem um die Frage der Akzeptanz – seitens Gottes, der Familie, der anderen. Aber, ganz ehrlich: Um jeden Satz, den ich gekürzt habe, hat es mir leidgetan! Krass echt, Bro!

„Ey hör mal!“ ist gnadenlos komisch, rücksichtslos entlarvend und wahnsinnig aktuell. Lesespaß pur – und ein Bildungserlebnis ganz nebenbei. Und das Beste ist: Ihr müsst damit nicht bis zu den Sommerferien warten! Ischwör!

Copyright: Gulraiz Sharif: Ey hör mal! Übers. v. Sarah Onkels u. Meike Blatzheim. Arctis Zürich 2022, S. 7, 196f.; ISBN 978-3-03880-054-5

Ey hör mal

von Gulraiz Sharif
208 Seiten
Arctis Zürich 2022, ISBN 978-3-03880-054-5
ab 12 Jahren

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