8. September 2022
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Bücher, die Sterben, Tod und Trauer für Jugendliche thematisieren, gibt es viele. Aber „Stolpertage“ von Josefine Sonneson ist etwas ganz Besonderes. Ich erzähle euch von einem wirklich bemerkenswerten Debütroman!

„Stolpertage“ von Josefine Sonneson

Jettes Welt ist durcheinander. Nichts ist mehr da, wo es hingehört. Wie beim Axolotl. Den Schwanzlurch hat sie in der Schule kennengelernt. Aber wenn dem eine Gliedmaße oder sogar sein Gehirn abhanden kommt, dann wächst das ganz einfach wieder nach. In Jettes Leben ist das gerade anders.

Die Eltern haben sich getrennt, und an Stelle von Papa ist jetzt Hannes in der Familie.

Die große Schwester macht gerade das Abitur, und danach wird sie ausziehen.

Walli, die beste Freundin, ist bereits weggezogen. Und während Walli neue Freunde gefunden hat, trauert Jette immer noch.

Und dann ist da der Opa. Der hat sich in letzter Zeit immer mehr in seinen „Zeitschlaufen“ (S. 120) verheddert. „Mit Opa kommt manchmal ein Kreiselgespräch, in dem sich alles ständig wiederholt und du dich fragst, wie du jemals wieder da rauskommen sollst.“ (S. 53) Früher war er Jettes geheimster Verbündeter. Jetzt liegt er im Krankenhaus.

Vom Sterben erzählen

Josefine Sonneson erzählt mit vielen Rückblenden über die letzten Schul- und die ersten Osterferientage. Und die sind voller Warten auf den Sommer: Dann könnte sich manches geklärt haben, dann hat die Schwester das Abitur bestanden, dann ist der Umzug über die Bühne gegangen. Und noch ist Hannes nicht bei ihnen eingezogen, irgendwo ist da noch die Hoffnung, dass alles so bleiben, wieder so werden könnte, wie es war.

Ein Anruf macht klar, dass diese Hoffnung vergeblich ist.

Was dann geschieht, beginnt sehr schnell und bleibt – auf doppelbödige Weise – atemlos. Jette rennt um das Leben ihres Opas. Weil das nicht ausreicht, nimmt sie ein Taxi. „Ich entscheide mich schnell für den, der aussieht, als würde er am schnellsten fahren und am wenigstens fragen.“ (S. 111) Im Krankenhaus eilt sie auf Station – rechtzeitig!

„‚Bin ich zu spät?‘, frage ich in Mamas Arme hinein und der Stoff der Jacke verschluckt meine Worte. ‚Nein.‘ Sie lässt mich wieder los ‚Hat auf dich gewartet.‘, sagt sie leise“ (S. 114).

Und jetzt wechselt das Tempo. Langsam und vorsichtig betritt Jette das Sterbezimmer des Opas. Noch lebt, noch atmet er, nach und nach wird der Atem langsamer, hört schließlich ganz auf. Was rasend schnell begann, endet nach zehn Seiten mit dem Tod des Opas.

Für Jette ist auch dieses stark verlangsamte Erzählen noch zu schnell. „Ich habe jemanden sterben sehen. Aber ich weiß nicht, was das bedeutet.“ Denn: „Es ist was passiert, das man nicht begreifen kann, aber es ist trotzdem einfach so passiert.“ (S.122)

Das Leben ist (fast immer) kein Axolotl

Der Opa wird aufgebahrt und begraben. Der Umzug geht weiter. Hannes bleibt. Die Ferien enden. Die Schwester besteht das Abitur und ist weg. Nichts wächst nach wie beim Axolotl, sondern alles verändert sich – und die Wunden bleiben.

Da klingelt das Telefon: Jettes Schwester meldet sich. Sie hat etwas entdeckt.

„Aber ich glaub, heute Morgen ist er angekommen! Als ich aufgestanden bin, war so ein Licht am Himmel, das war anders als gestern. Weißt du, hier sind zwei so Hütten, da wohnen die Helfenden drin. Ist ja auch egal, aber der Himmel hinter diesen Hütten heute Morgen, da geht die Sonne auf und der war anders als gestern. Irgendwie weiter. Und höher! Als könnte man weiter hinaufschauen! Und ich glaub, das ist er jetzt.“ Spricht sie vom Opa? Erst zwei Sätze später bricht der Hoffnungshorizont: „Also ich wollte nur sagen, er ist da, der Sommer ist jetzt da!“ (S. 174).

Das Buch „Stolpertage“ im Unterricht

Sterben, Tod und Trauer gehören in die Schule – gerade im Religionsunterricht muss darüber gesprochen werden. Sonnesons Roman führt ganz nahe an diese Themen heran. Selten habe ich einen so intensiv geschilderten Sterbeprozess gelesen, der zugleich die vielen anderen Abschiede und Veränderungen spiegelt (siehe Kopiervorlage unter diesem Beitrag). Und er ist ganz unauffällig eingebettet in Hoffnungshorizonte: Das Leben geht weiter. Der Sommer kommt. Und war da nicht auch noch irgendwas mit Ostern?

Das Buch, in Auszügen (vor-)gelesen oder in der Lerngruppe vorgestellt, öffnet viele Türen zu diesen wichtigen Themen!

Wir alle sind keine Axolotls. Nichts, was wirklich wichtig ist, wächst uns einfach nach. Aber wir können lernen, mit den Wunden zu leben. Irgendwann werden vielleicht Narben daraus. Und ein Sommer kommt.

Copyright: Josefine Sonneson, Stolpertage, Carlsen 2022, S.53, 111, 114, 122, 174 © Carlsen Verlag GmbH, Hamburg

Stolpertage

von Josefine Sonneson
176 Seiten
Carlsen Verlag, ISBN 978-3-551-58462-5
ab 12 Jahren

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