6. November 2023
9

In seinen Ansätzen beschäftigt sich Enrique Dussel vorrangig mit ausbeuterischen Gesellschaftsstrukturen und der Frage, wie diese aufgelöst werden könnten.

Besonders an Weihnachten häufen sich wieder die Spendenaktionen, mit deren Hilfe Menschen in schwierigen oder sogar bedrohlichen Lebenslagen finanziell unterstützt werden sollen. Oft müssen wir uns an dieser Stelle jedoch auch eingestehen, dass uns diese Ungleichheiten in der Welt das restliche Jahr über nicht so sehr beschäftigen – obwohl wir tagtäglich davon profitieren, dass beispielsweise Menschen in anderen Ländern fast keinen Lohn für ihre Arbeit bekommen. In seinen Texten beschäftigt sich Enrique Dussel vorrangig mit der Frage, warum diese unfairen Verhältnisse in modernen Gesellschaften so gut ausgeblendet werden können.

Enrique Dussel: Studienaufenthalte in Lateinamerika und Europa

Enrique Dussel wurde am 24. Dezember 1934 nahe bei Mendoza in Argentinien als Sohn einer Emigrantenfamilie geboren. Nach seinem Philosophiestudium erhielt er ein Stipendium, um in Europa studieren zu können und zog 1957 nach Madrid, wo er zwei Jahre später promovierte. Nach seinem Abschluss bereiste er zunächst Europa, bevor es ihn 1961 nach Pontigny in Frankreich verschlug, wo er ein Theologiestudium begann und ebenfalls erfolgreich abschloss. Während eines Aufenthalts in München lernte er seine Lebensgefährtin Johanna Peters kennen, mit der er heute zwei Kinder hat. 1967 kehrte Dussel schließlich nach Argentinien zurück, wo er eine Professur für Kirchengeschichte übernahm und an verschiedenen Universitäten tätig war. Hier kam er das erste Mal mit der gerade aufkommenden Theologie der Befreiung in Kontakt, was ihn sein bisher stark europäisch geprägtes Denken immer mehr in Frage stellen lässt. Immer mehr wendet er sich einer lateinamerikanisch geprägten Philosophie der Befreiung zu, die von der Vormundschaft philosophischer Theorien aus Europa befreit ist. Nachdem der rechtspopulistische Juan Perón die Präsidentschaftswahl 1973 gewann, wurde Dussel zusammen mit anderen Kritikern der Regierung von der Universität vertrieben. Dussel verließ Argentinien und ging nach New-Mexico, wo er bis heute lebt und als Professor arbeitet.

Die Theologie der Befreiung als Ausgangspunkt

In seinem Denken wurde Enrique Dussel stark von den Ideen innerhalb der Theologie der Befreiung beeinflusst. Diese Denkrichtung lässt sich nur vor dem Hintergrund der lateinamerikanischen Befreiungskämpfe verstehen, in denen der christliche Glaube eine besondere Rolle spielte. Viele der revolutionären Bewegungen nahmen ihren Anfang innerhalb von Glaubensgemeinschaften, die mit der europäischen Vorstellung von Kirche als stabilisierende Instanz staatlicher Gesellschaftsstrukturen brachen und ihren Glauben für sich neu definierten. Diese kritische Reflexion führte zu einer neuen Praxis, die durch mehr Eigenverantwortlichkeit und sozialem Engagement geprägt war.

Von dieser Position ausgehend entwickelt Enrique Dussel eine Philosophie der Befreiung und überträgt zentrale Aspekte der Befreiungstheologie auf das ungleiche Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern in der heutigen Zeit. Ebenfalls wichtig in diesem Zusammenhang ist der Begriff der Dependenz. Dependenztheoretischen Ansätzen zufolge muss die Unterentwicklung einiger Länder und der wirtschaftliche Fortschritt anderer Länder als historisches Produkt eines gemeinsamen Prozesses angesehen werden. Soziale Unterschiede verdeutlichen dabei ein ungleiches Abhängigkeitsverhältnis, welches dazu führt, dass einige Länder sich immer weiter an der Ausbeutung anderer Länder bereichern können. Dieses Verhältnis wird Dussel zufolge in dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften verkannt, die sich selbst als humanistisch und zivilisiert charakterisieren. Dass deren Fortschritt vor allem durch die Unterdrückung anderer Menschen möglich war, kommt in dieser Beschreibung nicht vor und wird daher von Dussel auch als Mythos der Modernen bezeichnet. Dies ist nur dadurch möglich, dass einige Länder als etwas Anderes aus dem Selbstbild entwickelter Länder ausgeschlossen werden, obwohl sie in einem unmittelbaren Zusammenhang zueinanderstehen. Um dieses ungleiche Verhältnis aufzulösen, müssen strukturelle Abhängigkeiten zunächst aus der Sicht der Entwicklungsländer verstanden werden. Die Befreiung muss von den unterdrückten Bevölkerungsgruppen selbst ausgehen, deren kulturellen Praktiken in einer vollständigen Gesellschaftskonzeption integriert werden müssen. Das Ziel seiner Befreiungsethik ist dabei nicht die generelle Ablehnung moderner Entwicklungen, sondern die Mitverwirklichung aller Kulturen in einer modernen Weltgesellschaft, die Dussel auch als Transmoderne bezeichnet.

Kostenlos zum Download

Danke!
9 Personen haben sich für diesen Beitrag bedankt.
Klicke aufs Herz und sag Danke.